Frau Schletterer singt nicht mehr

09
Ap
Still! Sie könnte mich hören!
09.04.2021 08:45

Ich höre sie kommen. Die Geräusche, die ihr Kommen begleiten, verheißen nichts Gutes.
Ich halte den Atem an, hoffe, dass sie mich nicht hören kann in meinem Sessel, auf dem ich verbotenerweise sitze. Und doch ist es mein Sessel. Schon immer gewesen.
Mein linker Fuß ist eingeschlafen, aber so lange sie sich in der Nähe aufhält, muss ich das aushalten. Denn bewegen darf ich mich jetzt nicht, damit sie mich nicht findet.
Da, sie hat die Richtung geändert, in die sie geht. Ihre Schritte verhallen allmählich, und ich wage es, meinen Fuß zu strecken und zu dehnen, damit wieder Leben hineinkommt.
Hat sie mich bemerkt? Nein, offenbar nicht, denn ich höre sie aus einiger Entfernung meinen Namen rufen. Es klingt viel Liebe aus ihrer Stimme. Aber ich durchschaue sie. Sie will mir nichts Gutes, sie liebt mich nicht. Sie hasst mich.

Als wir uns kennenlernten, zogen ihre dunklen Augen, die tief und verschlossen zugleich wirken, mich sofort in ihren Bann. Ihre Blicke streichelten mich, und ihre Stimme lullte mich ein.
Im Zusammenleben mit ihr habe ich allerdings gelernt, einer hübschen Schale eine gute Portion Skepsis entgegenzubringen, was den nicht sichtbaren Kern angeht.

Still! Ich höre wieder ihre Schritte. Ich senke mich tiefer ins Sesselpolster, hoffe, dass weder Hände noch Füße über die Armlehnen oder das Sitzpolster hinausragen. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, mich zusammenzurollen, die Gliedmaßen einzuklappen wie die Teile eines Schweizer Taschenmessers. Winzig bin ich, da in meinem Versteck. Sie darf mich nicht finden!
Sie ist böse, böse ist sie! Böse und verschlagen!
Ihr Rufen hat aufgehört. Ich kenne das. Damit will sie mich glauben machen, sie habe die Suche nach mir aufgegeben. Aber ich weiß, was kommen wird. Sobald ich mich aus dem Sessel erhebe, wird sie mich erwischen. Doch ich habe dazugelernt, ich werde mich nicht von der Stelle rühren.
Das angestrengte Lauschen ermüdet mich. Sie ist kaum noch zu hören, wie sie durch die Wohnung streicht. Doch ihr Schritt verrät sie. Sie sucht mich, sucht mich immer noch. Ich muss auf der Hut bleiben.
Einschlafen darf ich jetzt nicht. Mein Schnarchen (eine Schwäche von mir) würde mich sofort verraten. Überaus langsam wische ich mir über die Nase, die ausgerechnet jetzt zu jucken beginnt.
Die Uhr schlägt sechs Mal zur vollen Stunde. Viel zu laut für meinen Geschmack. Hoffentlich wendet sie sich der Uhr nicht zu, sonst bin ich verloren.
Hör! Jetzt ist sie wütend. Sie stampft auf und geht in Richtung Haustür.
Ich höre den Schlüssel. Er kommt nach Hause. Wird sie ihm verraten, was sie mit mir vorhat?
„Hallo Schatz!" Küsschen.
"Ich wollte mit dem Kater zum Tierarzt, aber ich finde ihn nicht. Jetzt isses zu spät. Naja, muss ich halt nächste Woche mal schauen. -  Ich mach dann jetzt mal Essen.“
Endlich! Ich richte mich auf, schüttele meine Beine aus, springe vom Sessel und widme mich meinem Napf.

 

Hm...
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