Frau Schletterer singt nicht mehr

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Ma
Einfache Worte und ihre schwierige (Be-)Deutung
30.05.2022 11:24

„Sie betrat ein Apartment, von dem niemand wusste, was dort bereits geschehen war“.
Diese Artikelüberschrift auf stern.de ist geziert mit einem düsteren Foto eines dunklen Hausflurs bzw. Treppenhausausschnitts, und natürlich weiß man beim Lesen sofort, worum es geht. Irgendwas Schlimmes ist in dieser Wohnung passiert, und „sie“ wird es in den nächsten Momenten herausfinden – oder gar am eigenen Leib erleiden müssen.
Wenn wir aber ehrlich sind, ist dieser Satz so harmlos wie nur irgendwas.
Denn: als ich noch allein wohnte, wußte außer mir auch niemand, was in meiner Wohnung „bereits geschehen war“. Es war meine Wohnung, mein Reich, und es kamen nur höchst selten Besucher. Und was ich in meiner Wohnung machte, bekam niemand mit. Ich war ja allein in meinen Räumen.
Daß ich dort also wohnte, schlief, kochte und aß, fernsah und las, weinte und lachte, duschte und meine Wäsche wusch, aufräumte oder auch nicht, das alles wußte niemand – wiewohl all das kaum überraschen dürfte, denn es sind Handlungen des alltäglichen Lebens, die jeder irgendwann vollzieht, und die genau genommen keine Geheimnisse sind.
Aber dennoch gilt: wenn jemand zu mir kam, dann „betrat [er/sie] ein Apartment, von dem niemand wusste, was dort bereits geschehen war“.
Ich räume ein, daß die Formulierung aussagekräftiger, interesseweckender, packender und dennoch sprachlich korrekter Schlagzeilen und Überschriften vermutlich schwieriger ist, als ich mir vorstellen kann.
Ich behaupte allerdings auch, daß die Autoren, die heutzutage für (Print-)Medien schreiben, ihr Handwerk gar nicht oder auf jeden Fall wesentlich schlechter gelernt haben als die von vor 40 Jahren.
Man beweise mir gern das Gegenteil – erkläre mir dann aber bitte, was sonst mit unserer Nachrichtenkultur passiert ist…

 

Oh je...
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