Frau Schletterer singt nicht mehr

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"Frau H." oder "Die Kunst, die Kunst zu hassen"
16.11.2021 09:21

In einem Blog, dem ich schon längere Zeit folge, hat die Autorin gestern einen Text veröffentlicht, in dem sie sich ihren Kindheitserinnerungen hingibt. Sie erzählt darin von den Stunden, in denen sie in der Schule freitagnachmittags mit dem Wasserfarbenkasten malen durfte.
Mir fiel dabei natürlich sofort Frau H. ein, die Lehrerin, die ich in der Unter- und unteren Mittelstufe in „Bildende Kunst“ hatte (so hieß das Fach seinerzeit).
Frau H. muß damals ungefähr so alt gewesen sein, wie ich es jetzt bin. Aber sie wirkte auf uns alle da schon wie eine alte Frau.
Sie war von eher stämmiger Statur, das Haar für damalige Verhältnisse militärisch kurz geschnitten, und wenn sie lächelte, ging man besser in Deckung, denn sowas wie Freundlichkeit empfand Frau H. dabei zweifellos nicht.
Unsere Unterrichtsstunden waren alle gleich: wir malten Bilder, für die sie uns genaue Vorgaben machte, und immer mußten wir mit Wasserfarben malen. Selbst die Vorzeichnung hatten wir mit dem Pinsel anzufertigen. In hellgelber Farbe. Bleistifte waren tabu. Es war ein Graus! Für mich war der Pinsel ein natürlicher Feind! Nie gelang mir mit ihm auch nur ein einziger zarter Strich, von „genau“ will ich gar nicht erst reden. Und spätestens dann, wenn in meinem Bild Flächen auszumalen waren, lag vor mir ein Schlachtfeld von ineinanderfließenden, groben Klecksen, die mir stets im besten Falle eine 4 einbrachten. Ich denke da besonders an das eine Bild von einem Tropenwald, in das wir 16 verschiedene, selbst gemischte Grüntöne einarbeiten mußten. Ich kann noch heute keinen Mischwald betrachten, ohne an Frau H. und diese schreckliche Aufgabe zu denken.
Sie warf mit ihrem Schlüsselbund nach uns, wenn wir quasselten; sie hieß mich, "doch mal die schöne Hand zu benutzen", wenn ihr mein Bild, das ich als Linkshänderin nunmal mit der linken Hand malte, nicht gut genug war; und sie äußerte niemals eine Bitte (z. B. wenn jemand für sie den Diaprojektor bediente), sondern stieß immer nur Befehle aus.
In der neunten Klasse überraschte uns Frau H. mit der Ankündigung, jetzt doch mal was ganz anderes mit uns vorzuhaben. Meine Freude kam verfrüht, denn „was ganz anderes“ bedeutete in diesem Falle „was noch viel Schlimmeres“. Wir mußten basteln!
Als erstes bastelten wir ein Haus aus lauter Streichhölzern. Da war viel Kleber im Spiel, und wer mich kennt, weiß, daß ich mit Uhu auf Kriegsfuß stehe.
Frau H. war auch bei diesem Projekt hervorragend geeignet, einem das letzte Bißchen Spaß auch noch zu verderben, denn ich erinnere mich, daß meine Freundin Andrea das Dach ihres Häuschens mit großen Streichhölzern deckte, wobei sie am First diese Hölzchen zueinander in der Höhe versetzte, so daß sie - eines übers andere - oben überstanden und so einander überkreuzten. Was oben am First in der Höhe versetzt war, war dann natürlich auch am unteren Dachrand, wo im wahren Leben eine Dachrinne angebracht ist, zueinander versetzt, so daß unten natürlich keine durchgehende Abschlusskante entstand. Und jetz küttet: Andrea mußte die „Lücken“ im Dachrand tatsächlich mit kleinen Streichholzstückchen so auffüllen, dass die gerade Linie unten wiederhergestellt war. Denn, so die irrsinnige Begründung von Frau H., wenn es regnete, würden bei so einem lückenhaften Dachrand ja alle darunter durchgehenden Personen klatschnaß, weil das Wasser völlig unkontrolliert über die Kante fiele. Dabei war es ihr völlig egal, daß unter dem Dach eines Streichholzhäuschens(!) wohl nie jemand hergehen, und das Haus wohl auch niemals im Regen stehen würde.
Sie sehen, Frau H. konnte einem die Kunst systematisch aus dem Leib und aus der Seele prügeln.
Zu allem Elend mußten wir nach fertiggestelltem Hausbau noch kleine Figürchen dazu basteln, jedes etwa 6 cm klein, mit Frisur und Kleidung. Ich mag gar nicht daran denken!
Andrea hatte das Talent für feinmotorische Arbeiten von ihrem Vater geerbt, und sie bastelte tatsächlich einen Mönch, der ein Fahrrad neben sich herschob. Das Fahrrad hatte Licht, Schutzbleche und einen Gepäckträger. Es war ein Meisterwerk! Ich weiß nicht mehr, was Frau H. davon hielt, aber das ist vielleicht auch gut so.
Meine Figürchen sahen jedenfalls alle aus wie aus dem Grab von Tut-ench-Amun geborgen, denn ich hatte sie mit bunter Wolle umwickelt, um damit Hose und Pullover anzudeuten. Zum Gruseln!
In der zehnten Klasse bekamen wir dann einen anderen Lehrer, bei dem wir auch Bleistiftzeichnungen anfertigten. Und plötzlich hatte auch ich eine gute Note. Ob ich aber jemals das Trauma überwinden werde, das Frau H. bei mir hinterlassen hat, bleibt abzuwarten.

 

Wann kommt das Paket?

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